Zehn Dinge, die der Nationalpark in 50 Jahren gelernt hat
Wissenschaftliches Arbeiten genießt hohen Stellenwert - Prozessschutz bietet einmalige Möglichkeiten
Eintrag Nr. 40/2019
Datum: 28.11.2019
Grafenau. Im Nationalpark Bayerischer Wald können natürliche Prozesse großflächig so ablaufen, wie sie es seit Jahrtausenden tun. Für Forscher bietet dieser Prozessschutz einmalige Möglichkeiten. Der 50. Geburtstag des Schutzgebietes im Jahr 2020 ist ein Anlass zurückzuschauen und zehn Dinge zusammenzutragen, die der Nationalpark in dieser Zeit gelernt hat.
1) Der Wald verjüngt sich von allein
Nach dem Absterben der Altfichten im Hochlagenwald in den 1990er Jahren gab es in der Region die Meinung, man müsse der natürlichen Waldentwicklung durch Pflanzungen auf die Sprünge helfen. Erfahrungen aus der Forstgeschichte haben schließlich gezeigt, dass die Verjüngung der Hochlagenwälder schon immer ein Problem war. Die Ergebnisse der Waldinventuren der Nationalparkverwaltung zeigen jedoch ein völlig anderes Bild. Nach dem großflächigen Borkenkäferbefall verjüngt sich der Wald so stark wie nie zuvor. Die Verjüngungsdichte liegt bereits nach zehn Jahren höher als die Pflanzzahlen, die man in bewirtschafteten Wäldern ausbringen würde. Hiermit wurde wissenschaftlich belegt, dass Wälder sich selbst in den klimatisch rauen Hochlagen ohne menschliches Zutun hervorragend regenerieren können.
2) Auerhühner brauchen Wellness-Bereiche
2016 und 2017 wurde die Auerhuhn-Population in den Nationalparks Bayerischer Wald und Šumava anhand von Kotproben, Zufallsbeobachtungen und hochauflösenden Luftbildaufnahmen umfassend untersucht. Das Monitoring zeigt, dass derzeit rund 550 Auerhühner im bayerisch-böhmischen Grenzgebirge leben. Damit liegt die Population nicht weit, aber dennoch über der kritischen Schwelle von 470 Tieren, die für das langfristige Überleben notwendig ist. Der begrenzte Lebensraum der Auerhühner in den Schutzgebieten wird durch touristische Nutzung weiter eingeengt. Die genetische Untersuchung der Auerhuhn-Kotproben auf Stresshormone ergab, dass der Stresslevel der Tiere mit der Gästefrequenz steigt. Deshalb sind ungestörte Auerhuhn-Rückzugsräume, die von großen Besucherströmen freigehalten werden, nötig.
3) Totgeglaubte leben länger – der Nationalpark ist ein Hotspot der Biodiversität
Ökologische Störungen, wie Windwürfe oder Borkenkäferbefall, verändern die Struktur und die Zusammensetzung der Wälder und somit der Artengemeinschaften. Sie schaffen Raum und Licht zur Regeneration des Waldes, sorgen für die Bereitstellung von Nährstoffen und tragen zur Anreicherung von Totholz bei. Dadurch entstehen im Nationalpark Bayerischer Wald wieder Lebensräume für Arten, die als verschollen galten. Dazu zählen nicht nur die Urwaldreliktkäfer, sondern auch viele Pilzarten, wie die Zitronengelbe Tramete. Nur dort, wo große Mengen an abgestorbenen Bäumen vorhanden sind, finden diese Urwaldarten ihre hochspeziellen Habitate in ausreichender Zahl. Das vielfältige Raumangebot kommt auch vielen anderen Arten zu Gute, wie der Mopsfledermaus oder dem Zwergschnäpper. Durch die Steigerung der Biodiversität konnten im Nationalpark zirka 11 000 Arten nachgewiesen werden. Vermutet werden jedoch mindestens 14.000 Arten. Hotspots für Insekten, Mikroorganismen sowie für aasfressende Wildtiere sind auch Kadaver, die im Wald verbleiben.
4) Eine Rückkehr ist möglich
1848 wurde der letzte Luchs bei Zwiesel erlegt, seitdem galt die Art im Bayerischen Wald als ausgestorben. In den Jahren zwischen 1982 und 1989 wurden auf dem Gebiet des heutigen Nationalparks Šumava 18 Karpatenluchse freigelassen – mit Erfolg. Nachdem sich die Population zunächst ausgebreitet hat, stagnierte die Anzahl der Tiere seit Anfang der 2000er Jahre. Forschungen ergaben, dass es außerhalb des Schutzgebietes immer wieder zu illegalen Luchstötungen kam. Dies führte zur Stagnation. Seit der öffentlichen Debatte sind die Akzeptanz und damit auch die Zahl der Tiere angewachsen. Gleiches gilt für den Habichtskauz. Deutschlands zweitgrößte Eulenart galt seit ihrem letzten Abschuss im Jahr 1926 im Böhmerwald als ausgestorben. 1975 wurde mit der Wiederansiedlung des Habichtskauzes im Nationalpark begonnen. Lange Zeit überlebten die Tiere nur mit Hilfe spezieller Nistkästen. Dank der Akzeptanz in der Bevölkerung umfasst die bayerisch-tschechische Population aktuell über 50 Reviere. Wo Luchs und Habichtskauz Hilfe brauchten, haben es Wolf sowie die Urwaldreliktkäfer, wie Zottenbock und Rauer Flachkäfer, selbst geschafft. Sie sind auf natürliche Weise zurückgekehrt.
5) Borkenkäferbekämpfung kann auch naturschonend sein
Auf über 70 Prozent der Fläche darf sich im Nationalpark Bayerischer Wald die Natur nach ihren ureigensten Gesetzen entwickeln. In den Randzonen jedoch wird zum Schutz der angrenzenden Wälder dauerhaft Borkenkäferbekämpfung betrieben. Dass es hier naturschonende Möglichkeiten gibt, konnte im Rahmen von Forschungen gezeigt werden. Gängige Methode in der Forstwirtschaft ist die komplette Entrindung von befallenen Fichten. Damit geht aber wichtiges Biomaterial verloren. Der Nationalpark hat eine neue Technik entwickelt, die hilft, den Buchdrucker in Schach zu halten, aber die anderen Nutzer von Totholz weniger zu beeinträchtigen: Das Schlitzen der Baumstämme. Dabei wird nur ein Teil der Rinde, und somit des Biomaterials, entfernt. Der Rest bleibt als Lebensraum und Nahrung für viele Arten im Wald.
6) Mehr Besucher erfordern neue Wege beim Management
Die Zahl der Besucher im Nationalpark Bayerischer Wald nimmt seit einiger Zeit zu, derzeit kommen rund 1,3 Millionen Menschen jährlich in das Schutzgebiet. Für rund 58 Prozent der Erholungssuchenden spielt der Nationalpark eine große oder sehr große Rolle für ihren Besuch in der Region. Die steigende Erholungsnutzung und die daraus resultierenden Konflikte sowohl zwischen verschiedenen Nutzergruppen als auch mit Belangen des Naturschutzes stellen eine der zentralen Herausforderungen des Managements von Großschutzgebieten dar. Nur durch verlässliche Daten über die Eigenschaften und Wünsche von Besuchern kann ein Management durchgeführt werden, das ein Naturerlebnis ermöglicht und den Schutzzielen des Nationalparks Rechnung trägt. Durch ein grenzüberschreitendes sozioökonomisches Monitoring wird eine fundierte Datengrundlage erarbeitet.
7) Natürliche Störungen schaden dem Trinkwasser nicht
Während des Buchdruckerausbruchs im Lusen-Gebiet gab es Befürchtungen, dass die Trinkwassergewinnung im Nationalpark durch zu hohe Nitratbelastungen beeinträchtigt werde. Die Untersuchungen im Nationalpark zeigen, dass die Nitratwerte im Wasser nach großflächigem Borkenkäferbefall zeitverzögert kurzfristig steigen, jedoch nie auch nur annäherungsweise den Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation von 50 Milligramm pro Liter erreichen. Es wurden selten höhere Werte als 25 Milligramm pro Liter gemessen und die Werte lagen in allen Einzugsgebieten fünf Jahre nach dem Borkenkäferausbruch wieder auf dem Ausgangsniveau. Somit existiert auch kein Konflikt zwischen der Förderung der Biodiversität durch großflächige natürliche Störungen wie Windwurf oder Käferbefall und der Bereitstellung von qualitativ hochwertigem Trinkwasser aus dem Nationalpark.
8) Der Nationalpark dient der Regionalentwicklung
Die Marke Nationalpark steht für unberührte wilde Natur, die bei den Besuchern hoch im Kurs steht und sie zum Besuch veranlasst: 58 Prozent der Besucher kommen genau aus diesem Grund in das Schutzgebiet, 98 Prozent der Urlauber im Bayerischen Wald kennen den Nationalpark. Er ist die Hauptattraktion in der Destination Bayerischer Wald und damit Zugpferd für die touristische Regionalentwicklung. Markierte Wanderwege, Besucherzentren, Museen und Tierfreigelände sind wichtige touristische Infrastruktur und damit Rückgrat für den Tourismus und die Naherholung im Bayerischen Wald. Die Gästekarte GUTi für kostenlose Mobilität mit Bus und Bahn in der Nationalparkregion unterstützt nachhaltigen Tourismus und den regionalen öffentlichen Nahverkehr. Das Nationalpark-Partner-Projekt fördert umwelt- und nationalparkfreundliche touristische Dienstleister aus den Sektoren Gastgewerbe, Mobilität und Erlebnisdienstleistung und damit nachhaltige Entwicklung in der Region. Wirtschaftlich betrachtet sorgt der Nationalpark für einen touristischen Bruttoumsatz von 52,4 Millionen Euro, woraus eine Netto-Wertschöpfung von 26 Millionen Euro für die Nationalparkregion resultiert.
9) Der Klimawandel ist im Nationalpark angekommen
Die April-Temperaturen stiegen in 30 Jahren um knapp vier Grad an, die Bayerwald-Schneedecke muss nun meist schon drei bis vier Wochen früher kapitulieren. Dementsprechend verschieben sich die Vegetationsperiode sowie der Abfluss des Schmelzwassers und die Grundwasserneubildung nach vorn. Im späteren Jahresverlauf gibt es jedoch weniger neues Grundwasser. Dafür verantwortlich sind die höheren Sommertemperaturen, die zu einer stärkeren Wasserverdunstung der Bäume führen. Somit kann weniger Flüssigkeit im Boden versickern. Pilze, Tiere und Pflanzen reagieren unterschiedlich auf diese Entwicklung. Einige Vögel und Insekten bevölkern nun auch Höhenlagen, in denen sie bisher nicht angetroffen wurden. Arten, die sich auf die Gipfelbereiche spezialisiert haben – wie Bergglasschnecke, Siebenstern oder Ringdrossel – laufen hingegen Gefahr, im Bayerwald zu verschwinden.
10) Wälder mit viel Totholz sind keine Kohlenstoffdioxid-Schleudern
Der Anblick stehenden und liegenden Totholzes hat in jüngerer Zeit die Frage provoziert, ob „Natur Natur sein lassen“ nicht negative Auswirkungen auf unser Klima erzeugen könnte. Schließlich verrottet dieses Holz vor Ort und gibt dabei Kohlenstoffdioxid (CO2) in die Atmosphäre ab, während dem Nutzholz eine längere Lebensdauer zugeschrieben wird. Letzteres ist jedoch eine falsche Annahme: Das genutzte Holz wird im Mittel schneller verbrannt als das im Wald verbliebene Holz verrottet. Wissenschaftliche Untersuchungen in Nutz- und Naturschutzwäldern, international und im Nationalpark, haben zudem gezeigt, dass sich Borkenkäfer und Sturmwurf kaum von der Holzernte als Störung des Ökosystems unterscheiden. Die CO2-Verluste aus dem Boden sind höchstens gleich groß und werden nach maximal 15 Jahren durch die CO2-Festlegung in Biomasse der nachfolgenden Vegetation wieder übertroffen – umso schneller, je intakter Kraut- und Strauchschicht und Baumverjüngung die Störung überdauert haben.
Text: Annette Nigl