Ein Naturgedicht im Wandel
Nationalparkgeschichte am Sagwasser geführt erleben
Eintrag Nr. 35/2019
Datum: 18.09.2019
Neuschönau. Der Nationalpark Bayerischer Wald feiert im kommenden Jahr seinen 50. Geburtstag. Ein halbes Jahrhundert Naturschutzgeschichte wurde seit 1970 geschrieben, doch auch die Zeit vor dem Nationalpark hat sich mit ihren Relikten bis heute im Parkgebiet verewigt. Am Sagwasser können sich nun Besucher auf eine historische Spurensuche zwischen Holztrift, dynamischer Wildnis, längst vergessenem Wissen und der poetischen Schönheit der Natur begeben.
„Jetzt schaut euch den Wald hier ganz genau an und behaltet das Bild im Hinterkopf. Das werdet ihr später noch brauchen.“, sagt Waldführer Martin Stadler mit einem leichten Schmunzeln zur Gruppe. Konzentriert wandern die Blicke durch den Mischwald mit seinen vielen Grüntönen. Zahlreiche Pilze erheben sich wie kleine Türmchen am Waldboden rund um den Randbereich des Tier-Freigeländes am Nationalparkzentrum Lusen. Um die 10 Personen sind an diesem warmen Herbsttag mit Stadler auf der Sagwasser-Führung durch den Nationalpark unterwegs. Es geht vorbei an einem kleinen Stück privaten Wirtschaftswald, welches sich noch als Überbleibsel der Gründungsjahre im Nationalparkgebiet befindet. „Die letzte Enklave“, lacht Stadler und lässt die Besucher erst einmal einen Blick auf die Fichten-Monokultur werfen. Der scharfe Kontrast zwischen Mensch-geformtem Forst und Nationalparkwald wird durch diese kurze Station für die Gruppe erst deutlich. Es sind diese Eindrücke, welche die naturverbundenen Besucher des Parks jedes Mal wieder aufs Neue faszinieren.
„Das ist eine Vielfalt, die findest du nicht im Wirtschaftswald“
Der Pfad wird schmaler, schlängelt sich über wild gewachsene, knorrige Wurzeln, Felsen, zwischen Totholzstämmen hindurch und ist umsäumt von jungen Bäumen, wilden Sträuchern und Moosflächen, die sich wie ein weiterer, winziger Wald dunkelgrün über dem Urwaldboden ausbreiten. Man taucht in eine Wildnis ein, die man so nahe an der Besuchereinrichtung nicht erwartet. Ein Mosaik der Natur ist hier entstanden und lässt den Besucher in seiner Fülle an Sinneseindrücken eintauchen. Der Waldführer bleibt stehen, blickt sich um und lächelt. „Das ist eine Vielfalt, die findest du nicht im Wirtschaftswald“. Tatsächlich ist man hier umgeben von Vogelgezwitscher, dem intensiven Duft von Moosen und Harz und dem leisen Gluckern eines kleinen Bächleins in er näheren Umgebung. Kurz kehrt Ruhe in der Gruppe ein und man vernimmt ein Konzert aus dem feinen Summen der zahlreichen Insekten und den vielen, leise rauschenden Blättern, die im leichten Wind durch die Baumkronen tänzeln.
Besonderes Schmankerl an der Sagwasserführung sind auch die Geschichten vom längst vergessenen Wissen der „Waidler“, die vor über einem Jahrhundert noch ein hartes und gefährliches Leben in den kargen Weiten des dunklen Böhmerwaldes bestritten. So entpuppt sich der unscheinbare Baumschwamm neben dem Wanderpfad als Notfallapotheke des Waldes. Das großflächige Pilzgeflecht unter dem morschen Holz wurde wegen seiner heilenden und antibakteriellen Eigenschaften laut Überlieferungen früher als Wundverband bei größeren Verletzungen genutzt. „Die Holzhauer haben sich damals immer den Standort dieser Bäume genau eingeprägt. Bei Verletzungen war das Myzel des Zunderschwamms oft die einzige Rettung in der Wildnis“, erzählt Stadler und erntet dafür erstaunte Blicke aus der Gruppe.
Spuren einstiger Nutzung: Triftkanäle und Waldbahn
Faszination erzeugte auch der mitgebrachte Zunderhut: Eine Kopfbedeckung, die aus dem gegerbten Material der „Hodernsau“, wie die Einheimischen den Zunderschwamm nennen, gefertigt wurde. Extravagant wirkt dieser Hut, dazu weich wie Samt, und stabil wie Leder. So könnte dieses Waidler-Relikt auch als teures Designerstück durchgehen. „Der Wald war Lebensgrundlage, aber die alten Techniken und Kniffe sind fast gänzlich verloren gegangen“ Vom Leben und Wirken der Holzhauer zeugen auf weiten Teilen des Wanderweges auch die alten Triftbäche, wie der begradigte Lauf des Sagwasser, welcher an manchen Stellen noch in Form der Uferbefestigungen aus Holz zu sehen ist. Für die Besucher ein Stück Bayerwaldgeschichte inmitten der Waldwildnis, die sich langsam ihre ursprüngliche Vielfalt wieder zurückerobert. Historische Stationen der dreistündigen Wanderung führen auch an der ehemaligen Trasse der Spiegelauer Waldbahn vorbei: Eine weit verzweigte Schmalspurbahn mit über 90 Kilometer Gesamtlänge, die einst zum Holztransport angelegt wurde und von der sich heute noch Brücken, Bahndämme und einzelne Schienen im Nationalparkgebiet verstecken.
Nach einem letzten Anstieg zwischen beeindruckenden Steinformationen und tausenden, Buchenkeimlingen zwischen den einzelnen, morschen Baumstämmen taucht die Gruppe wieder aus den Tiefen der Wildnis auf. Behäbig marschieren die großen Wisente in ihrem Gehege in der Ferne vorbei. Es ist eine Tour der Kontraste mit einer Fülle an Sinneseindrücke. In Erinnerung bleiben den Besuchern auch die Gedichte von Schriftstellern aus dem Woid, die der Waldführer an den passenden Stationen auf der Tour vorträgt. In der Stille des Waldes, umgeben von rauen Felsen, wilden, klaren Wassern, dem Geruch der weichen Moosteppiche und dem regen Treiben der Waldinsekten wirken die Worte aus einem der Gedichte wie eine Erinnerung an das, was den Nationalpark Bayerischer Wald in seinem Kern ausmacht:
„Es arbeitet die Natur. Sie zeigt uns Leben und Tod, Werden und Vergehen. Wie fühlt man sich da beim Anstarren all‘ dieser Größe, so winzig, so klein, so gar nichts, man schaut nur und schweigt.“
Tipp: Diese gewaltige Dynamik der Nationalparkwälder lässt sich bei mehreren Mittwoch-Terminen jeweils um 13.30 Uhr bei einer Führung erleben. Am 11. und 25. September, 9. Und 23. Oktober, sowie am 6. November geht es mit dem Waldführer zu der Tour am Nationalparkzentrum Lusen. Treffpunkt ist der Infopavillon am Besucherparkplatz P1, Erwachsene zahlen für die dreistündige Sagwasserführung 5 Euro, Kinder sind frei. Anmeldung via 0800 0776650 spätestens am Vortag erforderlich.
Text: Fabian Wirth